Wer bin ich – und wenn ja, wo? - Kita kinderzimmer Hamburg

Wer bin ich – und wenn ja, wo?

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Text: Aljoscha Rieger | Fotos: Sonja Tobias

„Emmi Hunger!“, „Greta Pipi macht!“, „Tobi nicht schlafen!“, das Mitteilungsbedürfnis eines Kleinkindes ist grenzenlos, sobald ein wenig Sprache dazukommt. Und das ist toll. Denn sonst wüssten die müden Eltern von Tobi ja gar nicht, dass jetzt eben doch nicht Schlafenszeit ist. An dem Satz „Tobi nicht schlafen!“ ist aber noch etwas bemerkenswert: Das Kind weiß, dass sein Name Tobi ist, spricht aber von sich in der dritten Person. Das ist keineswegs nur darauf zurückzuführen, dass seine Sprache gerade eine geschäftige Baustelle ist, sondern auch darauf, dass der Kleine nicht genau zwischen sich und diesem Tobi unterscheiden kann. Wissenschaftlich gesprochen hat Tobi damit noch kein „Selbstkonzept“.

Naa, wo bin ich? Kleiner Tipp: nicht unterm Teppich. Und auch nicht in die Decke gerollt.

So weit die Aufzeichnungen unserer Spezies zurückreichen, so lange zeugen sie auch von der Suche nach dem Ich. Der französische Philosoph René Descartes brachte seine Erkenntnisse zu dem Thema im siebzehnten Jahrhundert mit dem berühmten Satz auf den Punkt: „Ich denke, also bin ich.“ Wenn Sie Ihr einjähriges Kind allerdings aufmerksam beobachten, stellen Sie fest: Gedacht wird da schon ganz schön viel. Aber von einem „Ich“ ist das Kind noch weit entfernt. Und etwas ganz Wichtiges verschweigt Descartes uns obendrein: „Ich“ ist nicht nur etwas, das man denkt – man fühlt es auch.

Ein Knirps krabbelt vor einen Spiegel und patscht dem Gesicht, das er vor sich sieht, auf die Nase. Für ihn ist es ein anderes Kind, das in der Wand zu wohnen scheint und ihn sogar nachmacht. Frechheit! Aber irgendwie auch amüsant. Ihr Kind erkennt sich noch nicht selbst in der reflektierenden Fläche. Doch der Kleine liebt den unterhaltsamen Effekt, denn schon im ersten Lebensjahr hat er bemerkt, dass die Gestalt da im Spiegel genau dann das Ärmchen hebt, wenn er es auch tut.

Er nimmt sie als Spielgefährten wahr. Zusätzlich beginnt er seine eigene Körperbewegung und Position im Raum zu registrieren. Dafür gibt es übrigens einen eigenen Sinn. Der heißt in Doktor-Deutsch „Propriozeption“ und ist enorm wichtig für die Ichwerdung. Denn bevor man man selbst sein kann, muss man verstehen, dass man nicht alles andere ist. Dafür sorgen Rezeptoren in den Muskeln, Sehnen und Gelenken, sie informieren das Gehirn ständig darüber, wo sich der Körper und seine Gliedmaßen im Raum befinden, ob wir liegen, sitzen oder gehen. Das ist dann sozusagen ein erlebtes Ichgefühl.

Wir betrachten uns schon früh kritisch und stolz.

Irgendwann nach dem ersten Lebensjahr wird das Spiegelbild dann vereinfacht als das verstanden, was es ist: Ah! Das hat irgendwie mit „mir“ zu tun, das beeinflusse „ich“. Aber die Vorstellung vom eigenen Ich ist immer noch verwirrend. Zwischen dem 18. und dem 24. Monat können Kinder das erste Mal das Spiegelbild als „Ich“ wahrnehmen. „Ich“ heißt in diesem Fall die Außenansicht des Körpers, den sie spüren und durch den sie ihre Außenwelt beeinflussen. Zur gleichen Zeit kommen auch zwei Gefühle auf, die sehr viel mit dem eigenen Ich (und dem Spiegel) zu tun haben: Stolz und Scham.

Hier beginnt ein wichtiger Schritt weg von unseren tierischen Verwandten. Denn Delfine, Elefanten und Schimpansen erkennen sich auch selbst im Spiegel. Doch kein Wesen ist wie wir Menschen in der Lage, das eigene Selbst so gründlich auf den Prüfstand zu stellen. Wir betrachten uns schon früh kritisch und stolz. Und schauen uns mit Begeisterung selbst beim Sich-Entwickeln zu: Mein Ärmchen, mein Bewusstsein, mein Leben – dass all das „zu mir“ gehört, ist eine Integrationsleistung des Gehirns. Doch erst wenn die vielen Puzzleteile sich zu einem Ganzen fügen, erscheint das, was wir als Ich verstehen. Und was eben noch ein bisschen quecksilbrige Eindrücke waren, die einen kleinen Kopf eher verwirren, wird auf einmal stabil und ist dann plötzlich selbstverständlich.

Sich abzugrenzen ist ein grundlegender Teil der Ich-Entwicklung.

Fest steht nach alldem: Der Körper ist viel wichtiger für die Konstruktion des Ichs, als Descartes es vermutet hat. Denn was auch immer wir erleben, wird durch die Sinne gespeist. Wir sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen die Welt um uns herum – für Kinder ist das jeden Tag eine neue Erfahrung. Und eben auch, den eigenen Körper zu fühlen und gegenüber der Umwelt abzugrenzen, ist ein grundlegender Teil der Ichwerdung. Wenn jetzt aus „Tobi nicht schlafen!“ „Ich will nicht schlafen!“ geworden ist, ist schon viel geschafft. Aber es gibt noch mehr zu entdecken.

Mit etwa acht Monaten wird schon glücklich festgestellt, dass Mama noch da ist, auch wenn sie mal rausgeht, und der Ball nicht verschwunden ist, nur weil die Decke drüberliegt. Jetzt zieht das Kind eigene Rückschlüsse: Wie cool, ich bin ja auch immer da! Selbst wenn ich mir die Augen zuhalte. Denn das hat vor Kurzem noch gereicht, um sich vor Mama und Papa zu verstecken.

Nun beginnt der allergrößte Spaß. Sobald Kinder nämlich verstanden haben, dass sie ein Selbst haben und dass sie denken, fällt ihnen begeistert auf: Das tun ja andere auch. Normalerweise passiert das im Alter von drei bis fünf Jahren. Kinder erwerben dann die so genannte Theorie of Mind, das Wissen um das Ich der anderen und um deren Gefühle und Erwartungen. Das heißt zum Beispiel für Greta: Wenn man ihr eine Schokokeks-Dose hinstellt, sie darin aber Möhren entdeckt, wird ihr Freund Tommy dann, wenn er in dieselbe Dose guckt, genauso enttäuscht sein. Greta hat etwas erkannt, für das der Dichter Robert Gernhardt das passende Wort gefunden hat: Ich habe „meine Meinung“. Du hast „Deine Deinung“. Und manchmal sind beide gleich.

Hier fällt der Sprache wieder eine wichtige Rolle zu. Denn das kleine Wörtchen „ich“ hat nicht nur viel Wirkung nach außen, sondern auch nach innen. Aus Ihrem Kind wird durch dieses Wort ein kleiner Geschichtenerzähler, der seine eigene Biografie berichten und weiter schreiben kann. Und der Steuermann bei dieser wilden Fahrt ist nun einmal das Selbst.

Die Suche nach dem Ich muss jedes Kind in seinem eigenen Tempo antreten. Ohne Druck und Hetze. Geben Sie Ihrem Kind deshalb geduldig alle nötige Zeit. Als Belohnung winkt Ihnen die mal quirlig und mal langatmig, aber immer sehr persönlich erzählte Geschichte von jemandem, den Sie über alle Maßen lieben. In Ichform – und manchmal mit haarsträubenden Übertreibungen. Geschichten lassen sich besser erzählen, wenn man der Held ist. „Ich habe die größte Spinne gesehen, die es gibt!“ klingt eben gleich viel spannender als „Simon hat eine Spinne gesehen“.

Für unseren Autor war seine Heimatstadt Hamburg ein wichtiger Teil der Ichwerdung: Im Spiegel der Elbe hat sich der Sohn eines Schriftstellers und einer Psychologin nämlich schon früh erkannt. Trotzdem riskiert er immer wieder gern einen Blick.