Kinder fragen. Und für eine gewisse Zeit hören sie damit auch nicht auf. Einige der schönsten Kinderfragen haben wir hier gesammelt.
Wie viele Wörter lernt ein Kind pro Tag?
„Schau mal, Mama, eine Propelle!“ Max hat am Gartenteich eine Libelle entdeckt. Und tut das, was fast alle Zwei- bis Sechsjährigen leidenschaftlich gern tun: Er experimentiert, spielt und jongliert mit Sprache. Ganz nebenbei hat Max außerdem eine beeindruckende Übertragung geleistet: Mit Libelle assoziiert er aufgrund der rotierenden Flügelbewegung Hubschrauber, also Propeller, und verknüpft die beiden Begriffe Propeller und Libelle wegen des ähnlichen Wortklangs zu einem neuen Wort. Das Beispiel zeigt: Sprechenlernen ist ein beeindruckendes Pingpong-Spiel zwischen unserem Gehirn und unserer Umwelt. Und wenn Kinder mit der gleichen Neugier und Entdeckerfreude an die Sprache herangehen wie an ihre Umwelt, dann entstehen solch originelle Wortkreationen wie im Beispiel bei Max. Sie machen nicht nur Kindern, sondern auch Eltern Spaß und zeigen, wie spannend Sprache und das Lernen und Spielen mit ihr sein können.
Sprache lernt sich – fast – von selbst.
Sprache ist mehr, als Ihr Kind äußert, also mehr als die gesprochene Sprache. Zur Sprache gehört auch das vielschichtige Regelsystem, das jedes Kind sich aufgrund seiner angeborenen Lernfähigkeit nach und nach aneignet (Sprachkompetenz). Gerade bei der Anwendung der sprachlichen Regeln kommt es im Alter zwischen zwei und fünf Jahren oft zu lustigen Analogiebildungen. Lernen Kinder beispielsweise die Regel, wie eine Vergangenheitsform von Verben gebildet wird (spielen – ich habe gespielt), so wenden sie sie natürlich so lange an (trinken – getrinkt), bis eine neue Regel (hinsichtlich der unregelmäßigen Verben) ihre Kenntnisse erweitert.
Niemand hat Max beigebracht, wie er neue Wörter lernt, sie ausspricht und zu Sätzen gruppiert. Kinder lernen Sprache wie von selbst. Und doch nicht ganz. Sie brauchen bestimmte körperliche Voraussetzungen (im Gehirn und bei den Sprechorganen) und eine Umgebung, die sie zum Sprechenlernen ermutigt.
Sprache ist mehr als Sprechen.
Sprache entwickelt sich in vier wichtigen Bereichen: der Aussprache (Artikulation), dem Wortschatz, der Grammatik und dem Sprachverständnis. Während sich Wortschatz und Sprachverständnis ein Leben lang weiterentwickeln, sollte ein Kind mit sechs, sieben Jahren seine Kenntnisse in Aussprache und Grammatik vollständig erworben haben. Die vier Bereiche entwickeln sich unabhängig voneinander: Hapert die Entwicklung beispielsweise in der Artikulation, so heißt das nicht, dass Ihr Kind seine Fähigkeiten in den anderen Bereichen (Wortschatz, Grammatik, Sprachverständnis) nicht altersgemäß ausbildet. Wieso es zu Versorgungsproblemen in der sprachlichen Entwicklung kommen kann und welche Schwierigkeiten kompetenter Hilfe bedürfen, erfahren Sie im Folgenden.
Aussprache.
Nach und nach vervollständigt ein Vorschulkind das Repertoire seiner Laute. Während Zwei- und Dreijährige einige Laute noch weglassen (Mil statt Milch) oder durch andere Laute ersetzen (detommt statt gekommen), beherrschen Vierjährige bereits Zischlaute und schwierige Konsonantenverbindungen (str-, spr-). Erstklässler sollten über alle Laute verfügen, auch das bislang noch niedliche Lispeln müsste jetzt verschwunden sein.
Probleme in der Artikulation sind häufig organischer Ursache. Die Sprach- und Hörorgane müssen vollständig entwickelt sein, damit Ihr Kind gut (aus)sprechen kann. Vielleicht ist die Mundmuskulatur noch nicht ausreichend ausgebildet, sodass die Kraft oder die Koordination zur Bildung bestimmter Laute nicht ausreicht. Hin und wieder kommt es vor, dass Kinder im Anschluss an eine Mittelohrentzündung nicht gut hören. Wenden Sie sich gleich an Ihren Kinderarzt, wenn Sie den Eindruck haben, Ihr Kind bekommt häufig Teile einer Unterhaltung nicht mit oder fragt auffallend häufig nach. Denn wer Laute akustisch nicht unterscheiden kann, kann sie auch niemals richtig aussprechen lernen.
Ein Kind muss aber auch intellektuell begreifen, dass Lautunterscheidungen Bedeutungsunterscheidungen bewirken. „Tasse“ und „Tasche“ beispielsweise bedeuten etwas Unterschiedliches, und es kann zu Missverständnissen führen, wenn sich die Aussprache ähnelt. Hier sind Sie als Eltern gefragt: Auch wenn Sie den sprachlichen Code Ihres Kindes bald beherrschen, machen Sie es ihm nicht zu leicht. Zeigen Sie durch ein positives Vorbild („korrektives Feedback“, siehe unten), dass bestimmte Aussprachen missverständlich sind und wie die richtige Aussprache lautet.
Wortschatz.
Der kindliche Wortschatz entwickelt sich in geradezu rasanter Geschwindigkeit. Die Logopädin Martina Hasselmann rechnet vor, dass Sechsjährige, die im Durchschnitt 13.000 bis 14.000 Wörter kennen, in ihrem bisherigen Leben circa acht Wörter pro Tag gelernt haben. Für uns Erwachsene eine schier unvorstellbare Menge, denken wir nur daran, was uns das Vokabellernen einer Fremdsprache für Mühen abverlangt. Ab zwei Jahren, besonders wenn das Frage-Alter einsetzt, explodiert der kindliche Wortschatz geradezu. Das Kind lernt die Ichform, und Vierjährige benutzen auch andere Personalpronomen (du, ihr, wir und so weiter), Präpositionen (neben, bei, vor, unter …) und die Begriffe für Farben und Formen. Schulanfängern sind in der Regel die Zahlen von eins bis zehn vertraut und erste abstrakte Begriffe wie „gerecht“ oder „unheimlich“.
Wie schnell sich der Wortschatz eines Kindes entwickelt, hängt nicht zuletzt davon ab, wie viel Anregung ihm seine Umwelt gibt. Kinder, die viel sehen und das Erlebte erklärt bekommen – auch in Bilderbüchern und Geschichten –, erweitern automatisch und spielerisch ihren Wortschatz.
Grammatik.
Grammatik bedeutet, richtige sprachliche Formen und Sätze zu bilden. Die Fähigkeit, Regelmäßigkeiten im Gehörten zu erkennen und daraus Regeln abzuleiten, ist grundsätzlich angeboren. Nach und nach erweitern Kinder im Vorschulalter ihr grammatikalisches Repertoire. Wenn sie eine neue Regel gelernt haben, können sie sie auf verwandte Fälle übertragen. So probieren sie mit zwei Jahren erste Zwei- und Dreiwortsätze, beherrschen mit drei den Gebrauch von Nebensätzen („Wenn ich groß bin, …“) und können spätestens im Schulalter komplexe Sätze formulieren, in denen Zeit- und Pluralformen richtig angewandt sind. Somit sind sie in der Lage, umfangreichere Sachverhalte zu erläutern, ja ganze Geschichten zu erzählen.
Auch bei der Grammatik gilt: Je besser das Vorbild, desto leichter entwickelt das Kind eine richtige Grammatik. Grammatik muss nicht erklärt werden. Es reicht, wenn Sie selbst richtig sprechen, Geschichten vorlesen und Ihrem Kind immer wieder die Möglichkeit geben, gesprochene Sprache zu erfahren. Natürlich sollten Sie Ihr Kind nicht überfordern. Bleiben Sie aber in Ihrem Sprachniveau ruhig ein wenig über den Fähigkeiten Ihres Kindes, damit ein Lernanreiz besteht.
Kommunikationsfähigkeit.
Sprache ist mehr als richtiges Sprechen. Damit Kinder sich in ihrer Sprache zu Hause fühlen, müssen sie in der Lage sein, anderen zuzuhören, sich in andere hineinzudenken, sie ausreden zu lassen. Sie sollten immer wieder erfahren, wie schön und erfolgreich es ist, sich mit anderen sprachlich zu verständigen. Das ist ein wichtiger Teil der kindlichen Sozialentwicklung. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget beschreibt diesen Schritt als Evolution von der „egozentrischen Sprache“ hin zur „sozialen Sprache“.
Ist alles okay? So finden Sie es heraus.
Wenn Sie das Gefühl haben, Ihr Kind kann aufgrund organischer Ursachen nicht richtig hören und/oder sprechen, sollten Sie gleich einen Kinderarzt oder Hals-Nasen-Ohren-Arzt aufsuchen. Ein Hör- oder Sprachtest kann schnell Aufschluss darüber geben, ob es organische Ursachen gibt, die häufig relativ leicht behoben werden können.
Stottert Ihr Kind, brauchen Sie sich nicht unbedingt zu sorgen. Häufig handelt es sich im Vorschulalter um das „Entwicklungsstottern“: Das Gehirn reift schneller als das sprachliche Koordinationssystem, einfach ausgedrückt: Die Kinder denken schneller, als sie sprechen können. Diese Sprechstörung verschwindet mit der Zeit von selbst. Bleiben Sie ruhig, halten Sie Blickkontakt, wenn Ihr Kind spricht, und geben Sie ihm Zeit und Ruhe, sich auszudrücken.
Ist Ihre Beunruhigung allerdings eher diffus und allgemein, so vergessen Sie nicht, dass es keinen offiziellen Fahrplan für die richtige sprachliche Entwicklung gibt. Ein jedes Kind entwickelt sich auf seine Weise und in seinem Tempo. Wie Sie diese Entwicklung optimal begleiten können, lesen Sie weiter unten. Sicherlich können Sie den eigenen Sprössling vorsichtig mit Gleichaltrigen vergleichen, häufig aber verunsichert solch ein Vergleich eher. Deshalb ist es ratsam, bei kleinen Zweifeln den Rat von Profis einzuholen. Fragen Sie die Erzieherinnen und Erzieher nach ihrem Eindruck und wenden Sie sich sonst an Ihren Kinderarzt. Auch Hals-Nasen-Ohren-Ärzte können Ihnen weiterhelfen. Bei ernsthafteren Problemen stehen Sprachheilpädagogen, Logopäden oder sozialpädiatrische Zentren zur Verfügung. Darüber hinaus gibt es Sprachheilschulen und – in einigen Bundesländern – Sprachheilkindergärten, die sich auf die sprachliche Förderung von Kindern spezialisiert haben.
So fördern Sie die sprachliche Entwicklung Ihres Kindes.
Motivieren, ermutigen, die Freude an der Sprache wecken – auf diesen einfachen Nenner lässt sich die beste Förderung für Ihr Kind bringen. Statt zu ermahnen, zu kritisieren und zu korrigieren, ist eine positive Bestärkung viel hilfreicher. Spricht Ihr Kind ein Wort oder einen Satz falsch, so antworten Sie mit der richtigen Version des Wortes/Satzes. So lernt das Kind, ohne sich gemaßregelt zu fühlen.
Ein Beispiel. Kind: „Mama detinkt!“ Vater: „Ja, richtig. Mama hat ein Glas Saft getrunken. Sie hatte Durst.“
In diesem Beispiel fügt der Vater noch einen erklärenden Satz an. So hört das Kind einen weiteren wichtigen Begriff des Wortfeldes und erkennt einen kausalen Zusammenhang. Man spricht bei dieser positiven Art von Berichtigung von „korrektivem Feedback“.
Hier noch einige Tipps, wie Sie die Sprachentwicklung Ihres Kindes positiv beeinflussen können:
• Sprechen Sie klar und deutlich, langsam und verständlich.
• Wiederholen Sie Wörter und Sätze häufig.
• Ermahnen und verunsichern Sie Ihr Kind nie.
• Lassen Sie Ihr Kind nicht nachsprechen.
• Hören Sie geduldig zu, fragen Sie freundlich und interessiert nach, wenn Sie etwas nicht verstehen.
• Schaffen Sie eine gute Gesprächssituation:
• keine Nebengeräusche, keine Hektik, Blickkontakt.
• Verwenden Sie eine altersgemäße Sprache: nicht zu schwierig, aber keine Babysprache!
• Begleiten Sie Ihre Alltagshandlungen durch Sprache. Erklären Sie, was Sie tun.
• Wecken Sie Spaß und Interesse an Sprache durch Sprachspiele, Rätsel, Reime, Rollenspiele, Lieder.
• Lesen Sie viel vor.
• Sprechen Sie in Ihrer Muttersprache.
Fernsehen muss nicht schädlich sein.
Ist ein Kind gut entwickelt, wird ihm gelegentliches Fernsehen nicht schaden. Suchen Sie die Sendungen gemeinsam aus, und schauen Sie sich die Programme nach Möglichkeit auch gemeinsam an, damit Sie Fragen beantworten können. Man sollte sich allerdings nicht der Illusion hingeben, häufiger Fernsehkonsum könne Entwicklungsrückstände aufholen helfen. Im Gegenteil, sprachlich verzögerte Kinder sind sicherlich beim Fernsehen schnell überfordert. In jedem Fall – und das gilt für alle Kinder – ist es für die sprachliche Entwicklung Ihres Sprösslings das Allerbeste, häufig Geschichten zu erzählen oder vorzulesen. Auch Reime, Lieder, Wortspiele, Rätsel, Zungenbrecher, Teekesselchen, Wörterketten, Gedichte und Fingerspiele wecken Lust auf Sprache. Machen Sie sich gemeinsam und spielerisch auf die Reise ins spannende Universum der Laute, Wörter und Sätze.
Der Text erschien zuerst auf Kizz. Das Elternmagazin für die Kita-Zeit (www.herder.de/kizz). Er wurde fürs kiziPendium redaktionell bearbeitet.