Wir finden: Zahlen sind spannend. Denn hinter (fast) jeder verbirgt sich eine Geschichte. Zeit, sie zu erzählen.
Mama, wann sind wir endlich da?
Was sagt der Experte?
Ein Interview mit Dr. André Frank Zimpel, Professor für Pädagogik an der Universität Hamburg von Janina Jetten
Das frühkindliche Empfinden von Raum und Zeit ist anders als bei Erwachsenen. Haben Eltern es eilig, verwandeln sich Kinder gern augenblicklich in kleine Schnecken. Am Wochenende kann es ihnen dafür oft gar nicht schnell genug gehen, wenn man ausschlafen möchte. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass ein einjähriges Kind einen einzigen Tag so lang empfindet wie seine Eltern einen ganzen Monat! Schon ein Baby spürt, wie quälend lang ein paar Momente sein können: Ist der Hunger groß, dauert es gefühlt eine Ewigkeit, bis das Fläschchen fertig ist. Wenn man weiß, dass für Kinder schon ein paar Augenblicke kleine Ewigkeiten sind, erfordert es Geduld und ein paar Tricks, sich mit ihnen in der zeitlichen Mitte zu treffen …
Ein ganz normaler Morgen. Die Eltern müssen zur Arbeit, die Kinder ignorieren jede Aufforderung, sich die Jacke anzuziehen. Der Vierjährige will unbedingt mit seinem Feuerwehrhelm raus, die Zweijährige sucht den Teddy. Am Ende werden die Großen laut, die Stimmung ist mies. Was ist da los?
Da es einen Riesenunterschied zwischen dem zwei und dem vierjährigen Kind gibt, würde ich das „Was ist da los“ gern in zwei Teile trennen. Fangen wir mal mit der Kleinen an: Die weiß gar nicht, was die Eltern überhaupt von ihr wollen. In diesem Alter ist sie gerade dabei zu verstehen, dass die Sprache Sachen bezeichnet, die nicht zu sehen sind. Aber es stresst sie noch. Die Kita ist doch gar nicht da, der Teddy schon. Das ist alles, was sie weiß. Ihr Handeln wird noch nicht durch die Sprache gesteuert, sondern durchs Handeln und durch das, was ihre unmittelbare Aufmerksamkeit erregt.
Und der Vierjährige?
Der Vierjährige weiß immerhin schon, dass er ein Kind ist, und er weiß, dass Eltern Macht haben. Insofern kann er schon besser kooperieren. Allerdings befindet er sich in dem Alter im permanenten Rollenspielmodus. Er verliert sich geradezu jederzeit in einer Rolle. Im besten Fall spielt er die Rolle eines Kindergartenkinds und zieht sich an, in Ihrem Beispiel ist er eben gerade lieber Feuerwehrmann.
Aber das ändert nichts daran, dass man ja nun einmal losmuss.
Das stimmt, aber zu wissen, warum Kinder sich so verhalten, ist ja schon einmal auch eine Erleichterung für die Eltern. Denn viele Eltern sagen in solchen Situationen: Mein Kind will mich ärgern, mich provozieren. Und das wiederum ist totaler Blödsinn. Die Kinder wissen gar nicht, was Provozieren überhaupt ist.
Was kann ich stattdessen machen, um endlich loszukommen?
Besser wäre, wenn Sie Sätze sagen wie: Ich fahre jetzt in die Kita, ich wünsche mir, dass Du mitkommst. Oder: Ich würde mich freuen, wenn Du mitkommst. Oder: Ich bin ganz traurig, wenn Du nicht mitkommst. Kindern fällt es wesentlich leichter, die Absichten anderer Personen zu verstehen als sich selbst.
Schön ist auch das Wort „Vielleicht“.
Ja, es ist nun einmal so: Kinder sind total überfordert mit unseren Plänen. Sie müssen sich mal überlegen: Sie haben einen Zeitplan. Sie können lesen und schreiben. Sie haben den Kalender im Kopf. Was Sie alles für Werkzeuge im Kopf haben, die Ihr kleines Kind nicht hat! Wenn Eltern anfangen, es eilig zu haben, Stress aufbauen und auch noch anfangen zu schimpfen, ist das leider völlig kontraproduktiv.
Was passiert dann?
Das Gehirn eines Kleinkinds ist überfordert. Die Folge: Das Kind fängt dann an zu weinen und ist völlig verzweifelt, regelrecht orientierungslos und blockiert. Und wir denken: Hä, was ist denn nun los? Schon landen beide Parteien – Eltern und Kind – in einer vertrackten Situation, die keiner von beiden braucht und will. Übrigens hilft dann am besten zu beruhigen, eine bekannte Melodie summen, ein Kuscheltier geben – damit das Gehirn wieder funktioniert.
Wie kann ich meinen Kindern grundsätzlich klarmachen: Wir müssen uns an einen Zeitplan halten?
Ha, daran können Sie sich die Zähne ausbeißen, so etwas wird Ihnen nicht gelingen. Weil Kinder nicht in der Kategorie Zeit denken. Sie leben im Hier und Jetzt. Zweijährige haben noch gar keine Vorstellung von Zeit. Zwischen drei und sechs Jahren beginnen Kinder zu erahnen, dass es so etwas wie Zeit gibt. Sie messen diese allerdings an dem, was sie sehen, nicht in Stunden, Minuten und Sekunden. Ein großer Mensch ist demnach älter als ein kleiner, und bei zwei Spielzeugautos, die beide in der gleichen Zeit unterschiedliche Strecken zurücklegen, ist das Auto, das weiter gefahren ist, auch länger unterwegs gewesen.
Was können wir tun, um Kindern ein Zeitgefühl zu vermitteln?
Zunächst einmal: Das Gefühl für Zeit lässt sich nicht trainieren. Es bildet sich mit den Alltagserfahrungen, die Kinder machen, und mit der kognitiven Reifung. Man kann sich aber altersgerecht mit Zeit befassen. Kleine Kinder lieben Rituale. Dinge immer wieder auf die gleiche Weise zu machen gibt ihnen Halt, aber auch eine gewisse zeitliche Orientierung, weil sie merken, erst kommt das, dann das. Das würde ich morgens, aber auch abends vorm Einschlafen nutzen.
Und wie ist es mit dem Verstehen von Uhrzeiten?
Das braucht natürlich seine Zeit. Aber ich würde immer mit der Uhrzeit arbeiten. Schauen Sie ruhig demonstrativ auf die Uhr. Dadurch lernen die Kleinen, dass den Erwachsenen Uhren wichtig sind: Wie ticken Erwachsene? Die ticken nach der Uhr. Eine Spieluhr, die man für Rollenspiele mit der Puppe einsetzt, ist auch toll.
Was können wir Erwachsenen vom Zeitgefühl der Kinder lernen?
Intensiver zu leben. Kinder leben nicht in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft, sondern in der Gegenwart. Sie machen am liebsten nur, was ihnen spielerische Freude bringt, und lassen sich nicht von außen bestimmen. Davon können wir uns zumindest eine Scheibe abschneiden.
kizi-Tipp: Ein paar Ideen, wie Sie Ihr Kind bei der Entwicklung des Zeitgefühls unterstützen.
• Rituale in den Tag einbauen. Das macht Spaß, gibt ein Gefühl von Stabilität und rhythmischen Abläufen.
• Zeitangaben bildlich zur Sprache bringen. „Wir gucken ein Buch an, dann kommt Papa wieder.“ Oder: „Noch zweimal schlafen, dann hast Du Geburtstag!“ Vage Angaben wie „Papa ist gleich da“ versteht kein Kind.
• Üben Sie mit der Sanduhr oder stellen Sie einen Wecker, der nach zehn Minuten klingelt – und sagen Sie: „Dann hab ich aufgeräumt und wieder Zeit.“ Oder: „Zwei Minuten Zähneputzen, dann klingelt der Wecker.“
• Ein kleiner Blick in die Vergangenheit: Fragen Sie Ihr Kind, was in der Kita passiert ist. So lernt man zurückzublicken.
• Basteln Sie einen Kalender – eine Schale mit Tischtennisbällen darin: noch sieben Tage bis zum Geburtstag, bis zum Urlaub, bis Oma kommt. Jeden Tag darf das Kind einen Ball herausnehmen.
• Loben. Ihr Kind hat etwas gut „in der Zeit“ geschafft? Dann sagen Sie zu dem Kind: „Toll, wie Du Dich beeilt hast!“