Wir finden: Zahlen sind spannend. Denn hinter (fast) jeder verbirgt sich eine Geschichte. Zeit, sie zu erzählen.
Was sollte ein Kind bis zur Einschulung können?
Text: Christian Heinrich
Da sind ein paar Äpfel, versuchen wir mal zu zählen: erst den Finger auf einen Apfel, dann eine Zahl sagen, dann den Finger auf den nächsten Apfel, nächste Zahl, eins, zwei, drei, vier Äpfel sind es.
Für uns Erwachsene ist das selbstverständlich, wir denken darüber gar nicht nach. Für Ihre Tochter oder Ihren Sohn ist es eine riesige Herausforderung. Bis man als Kind so weit ist, dass man sicher zählen kann und überhaupt versteht, was man da tut, muss man gleich eine Handvoll abstrakter Prinzipien begreifen und verinnerlichen. Und es ist erst der Anfang.
Willkommen in der Welt der Mathematik. Der erste Kontakt mit der Mathematik beginnt sogar noch viel früher. Untersuchungen zeigen, dass bereits wenige Wochen alte Säuglinge Mengen unterscheiden können. Dabei orientiert man sich an der Aufmerksamkeitsspanne, die bei neuen Dingen länger ist. Selbst mit dem Rechnen machen die Kinder schon früh erste Erfahrungen, sogar noch vor dem bewussten Zählen. Denn mit dem Prinzip des Rechnens kommen sie immer in Situationen des Vergleichens, Vermehrens oder Verminderns in Kontakt: beim Ankommen und Abholen, im Morgenkreis, beim Essen oder Spielen, draußen oder drinnen. Ihr Kind erlebt dabei ständig, wie sich Mengen verändern – es wird also etwas addiert oder subtrahiert. Und schon bald merkt Ihr Kind sehr wohl, wenn der Nachbar vom leckeren Obst ein Stück mehr bekommen hat. Von Gummibärchen ganz zu schweigen!
Doch mit alldem kann das Kind vor allem in den ersten drei Lebensjahren wenig anfangen, von gezieltem und aktivem Anwenden kann gar keine Rede sein. Denn es fehlen ausreichende Kenntnisse in einem wichtigen Faktor, der mit der Mathematik enger verknüpft ist, als es auf den ersten Blick den Anschein hat: der Sprache. „Sprache ist wesentlich für die mathematische Entwicklung der Kinder“, sagt Dr. Jens Holger Lorenz, Professor am Institut für Mathematik und Informatik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Erst mit dem Spracherwerb können die Kinder Zahlwörter verwenden und sind so etwa in der Lage, Mengengrößen zu bestimmen.
Mit dem Zählen und der Erfassung von Mengen wächst in Ihrem Kind auch das Bewusstsein dafür, dass das Prinzip der Zahlen für seine ganze Umgebung gilt, von der Menge der Kuscheltiere über die Anzahl des Bestecks bis hin zur Größe der Familie. Das ist entwicklungspsychologisch ein wesentlicher Schritt. „Das Kind erkennt die Universalität der Mathematik und damit auch ihren Zauber: dass sie im Grunde überall wirkt und auch auf alles anwendbar ist“, sagt Jens Holger Lorenz. Und, das ist sogar noch wichtiger, es bekommt eine wesentliche Fähigkeit an die Hand, die Welt ein Stück weit zu strukturieren, zu ordnen – und damit auch zu erfassen. Das Zählen, das Verständnis von Mengen und Teilen, die sich zu einem Ganzen zusammenfügen können, sind die wesentlichen ersten mathematischen Fähigkeiten, auf denen vieles Weitere in der Grund-schule aufbaut.
Aber was genau sollte Ihre Tochter oder Ihr Sohn nun können, wenn sie oder er die Kita verlässt und in die Grundschule kommt? Dafür gibt es keine offiziellen Vorgaben. Es gibt eine Schuleingangsuntersuchung, in der es vor allem um die Zahlwortreihe und Basisfertigkeiten im Zählen geht. Doch die Untersuchung ist für die meisten Kinder kein Problem. Meist ist der durchschnittliche Kenntnisstand bei Kindern in Deutschland höher, das haben mehrere Tests erfasst. Laut dem bekannten Osnabrücker Zahlentest etwa hat mehr als die Hälfte aller Kinder zur Einschulung folgende Kompetenzen:
- das Aufsagen der Zahlen von 1 bis 20,
- weiterzählen ab einer bestimmten Zahl, etwa von 9 bis 15,
- 20 geordnete Klötze abzählen,
- wissen, dass 13 Bonbons mehr sind als 9 Bonbons (als Frage, ohne echte Bonbons),
- beim Mengenvergleich von bis zu jeweils 5 Objekten mit einem Blick erkennen, was mehr und was weniger ist,
- Objekte der Größe nach ordnen.
Wenn Ihr Kind vier oder fünf Jahre alt ist, werden Sie jetzt vielleicht erschrecken und sich denken: Mein Kind ist noch lange nicht so weit. Aber keine Sorge, das Lernen vor allem in der Mathematik geschieht nicht kontinuierlich. „Beim Erlernen von mathematischen Kompetenzen gibt es oft sprunghafte Fortschritte, als wäre ein Knoten geplatzt. Viele fünfjährige Kinder können nicht einmal bis zehn zählen. Ein Jahr später können sie oft locker zwanzig Objekte abzählen, ohne Fehler“, sagt Jens Holger Lorenz. Voraussetzung für die genannten Kompetenzen zur Einschulung ist, dass ein Kind die fünf Prinzipien des Zählens verinnerlicht hat. Doch das geschieht im Grunde von selbst: „Man braucht Dinge wie das Kardinalzahlprinzip oder das Abstraktionsprinzip gar nicht zu erklären. Das lernt das Kind im Laufe der Zeit von selbst“, so Lorenz. Eine frühe Förderung des mathematischen Verständnisses – etwa indem man immer wieder die Themen Zählen und Mengen anspricht – sei grundsätzlich sinnvoll. Aber man solle es auch nicht übertreiben.
Denn ebenso wichtig wie die Frage, was Kinder zur Einschulung können müssen, ist in diesem Zusammenhang die Frage: Was brauchen sie in Bezug auf Mathe nicht zu können? Nämlich alles, was eben nicht genannt wurde. Also, liebe Eltern, entspannen Sie sich, Sie müssen mit Ihrem Kind nicht das Einmaleins pauken. Im Gegenteil: Wenn man zu früh zu viel versucht beizubringen, kann das bei den Kindern Druck ausüben. Mathematik wird dann nicht mehr als spielerische Zahlenfreude angesehen, sondern als Pflicht und komplizierte Herausforderung. Sie können das Erklären von Addieren und Subtrahieren, von Multiplizieren und Dividieren also guten Gewissens den Grundschullehrern überlassen.
Hüpfspiele und Mathe:
Das eine Kind sitzt an einem kleinen Tischchen, zählt unter Aufsicht seiner Eltern Legosteine und trainiert seine mathematischen Fähigkeiten, das andere Kind hüpft draußen mit seinen Freunden auf mit Kreide gemalten Linien entlang und trainiert seine Muskeln und Bewegungsfähigkeit. Wer das Lernen seiner Kinder derart isoliert betrachtet, irrt. Ausgerechnet Bewegung und Mathematik hängen nämlich eng zusammen, insbesondere bei bestimmten Bewegungsspielen, etwa mit Hüpfkästen. Dabei zählen die Kinder die Hüpfkästen, ohne dabei dem direkten Gefühl des Lernens ausgesetzt zu sein. Das ist für das Gehirn meist viel einprägsamer und eingängiger, als wenn die Kinder mit dem Gefühl lernen, jetzt tatsächlich etwas verstehen zu müssen. Dieses Prinzip des spielenden Lernens gilt nicht nur für Mathematik und Bewegung, sondern auch bei zahllosen anderen Verknüpfungen: Kinder lernen sprechen, indem sie singen, und sie eignen sich die Gesetze der Physik an, indem sie experimentartige Spiele spielen.