Wir finden: Zahlen sind spannend. Denn hinter (fast) jeder verbirgt sich eine Geschichte. Zeit, sie zu erzählen.
Wer ist der Matheflüsterer?
Text: Vivian Alterauge | Foto: Astrid di Crollalanza
Da steht einer an einem Sommerabend in Südfrankreich auf dem Markt, zwischen einem Handyverkäufer und einer Tattoo-Künstlerin. Beide wollen etwas verkaufen, die eine ihre Kunst, der andere seine Waren. Und Mickaël Launay? Was er anbietet, gibt es kostenlos für die Passanten. Origami zum Beispiel, oder Zaubertricks und Rätsel. Was zunächst eher niedlich klingt, ein bisschen wie Kinder, die ihren eigenen Flohmarkt veranstalten am Straßenrand, meint dieser Mann jedoch völlig ernst: Er will Menschen für etwas begeistern, was viele schon ablehnen, wenn sie das bloße Wort hören – Mathe.
Denn Mickaël Launay liebt Mathe. So sehr, dass er seit fünf Jahren mit größter Begeisterung einen YouTube Channel namens „Micmaths“ betreibt, der inzwischen über 22 Millionen Aufrufe verzeichnet. Und so sehr, dass er ein Buch geschrieben hat, und zwar „Der große Roman der Mathematik“ (C. H. Beck, 19,95 Euro). Eine Art Parforceritt durch Zeit und Raum. All das, um Menschen anzustecken. Weil Mathe doch nun wirklich überall im Alltag zu finden sei, eben auch in Origami und Mandalas und Zaubertricks. Und weil, so glaubt er, Menschen Mathe insgeheim schon mögen. In seinem Buch schreibt Launay: Mathematik macht Angst, aber mehr noch fasziniert sie. Man liebt sie nicht, würde sie aber gern lieben. Oder zumindest einen indiskreten Blick in ihre dunklen Geheimnisse werfen. Man hält sie für unzugänglich. Aber das ist sie nicht. Man kann Musik lieben, ohne Musiker zu sein, und ein leckeres Essen genießen, ohne Sternekoch zu sein.
Man könnte Launay für einen Verrückten halten, vielmehr aber ist er ein Visionär. Er sagt: Mathe ist doch erfunden worden, um unser Verständnis für die Welt zu vereinfachen, um eine Herde zu zählen oder das Grundstück zu vermessen. Und wenn er das so sagt, klingt das auch erst einmal einleuchtend. Klar, so ein Buch über Mathematik liest sich nicht wie ein Hochglanzwohnmagazin, das man am Abend schnell durchgeblättert hat. Was das Buch uns vor allem vermitteln kann, ist eine Haltung: Mathe ist aufregend, Mathe kann toll sein und ist gar nicht so schwer und weit entfernt von uns, wie wir denken. Denn wenn wir unser Verhältnis zu Mathe ändern, wenn wir versuchen, es zu verstehen, dann können wir auch unseren Kindern die Angst vor Mathe nehmen, sagt Mickaël Launay.
Es gibt Anekdoten von Schülern, die nach seiner Inspiration anfangen, Reiskörner einer Packung zu zählen. Oder rechtwinklige Dreiecke einfach mit Fäden legen. In seinem Buch streift Launay durch Paris und zeigt im Museum oder auch auf der Straße, wo wir überall Mathe finden. Ein Zauberer erklärt einen Kartentrick, der auf Arithmetik beruht (keine Angst vor dem Wort, schon Grundrechnen mit Minus und Plus gehört dazu). Da ist ein Bildhauer, der geometrische Figuren in einen Stein meißelt. Ein Jongleur, der geometrische Formen in die Luft wirft. Und dann spielen da Kinder Fußball. Fußbälle sind meist nach dem Modell des Ikosaeders gebaut. Iko was!? Zwanzig sechseckige und zwölf fünfeckige Teile, ein Fußball ist ja keine glatte Kugel und schon gar kein Kreis, sondern wird aus vielen Formen zusammengesetzt.
Man hat noch keine Mathematik verstanden, wenn man dies akzeptiert hat. Aber plötzlich bekommt man ein Interesse und hat das Bedürfnis nachzuzählen: Hat er wirklich recht? Warum ist mir das selbst noch nie aufgefallen? Launay erzählt wirklich komplexe Sachverhalte an Fliesenmustern auf dem Boden, und man liest das auch noch gern, man versucht, alles zu verstehen, selbst wenn Algebra und Geometrie damals eher Heulkrämpfe ausgelöst haben. Wenn einer uns von Mathe überzeugen kann, dann er. Und selbst wenn wir das Buch nicht bis zum Ende lesen: Der neue und besondere Blick auf die Dinge, der bleibt. Und das Gefühl, Mathe von nun an behutsam zu mögen, sowieso. Denn es gäbe einfach zu viele Dinge, die wir nicht mehr mögen dürften, wenn wir Mathe komplett ablehnen würden. Damit das nicht passiert, haben wir Monsieur Launay.