Was ist die Natur von Kindern? - Kita kinderzimmer Hamburg

Was ist die Natur von Kindern?

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Occupy Stadtpark

Kinder können mitten in der Stadt Wildnis erleben – ganz ohne Naturerfahrungsräume. Dazu müssen wir verstehen: Natur ist nicht ökologisches Idyll, sondern ein großes Spiel. Seine Regeln sind die Prinzipien des Lebens, die sich etwa im Lauf der Jahreszeiten zeigen, in Abschied und Neubeginn. Um spielend das Leben zu lernen, brauchen Kinder Freiheit. Lasst die Kids die Straßen zurückerobern!

Beim letzten Herbststurm ist in meiner Berliner Straße von einer Kiefer ein großer Ast abgebrochen. Er lag auf dem Bürgersteig, sperrig, schwer, meterlang, behangen mit Nadelbüscheln an der Spitze. Ab und zu kamen Eltern mit ihren kleinen Kindern vorbei. Jedes Kind versuchte, den Ast mitzunehmen.

Ich habe nicht alle Kinder sehen können, die in den Tagen, bevor Reinigungskräfte das Baumstück abräumten, daran zerrten. Aber alle, die ich sah, liefen zum Ast, drehten ihn um, rissen an den Zweigen, schleiften das Monstrum schnaufend hinter sich her. Kleinere Kinder griffen aus ihren Karren in die leere Luft, um die Rinde zu berühren und an den Nadeln zu rupfen.

Am interessantesten waren die Dialoge, die sich zwischen Kindern und (meistens) Müttern abspielten, die aus gut verständlichen Gründen keine Lust hatten, den Baum zum Bestandteil der heimischen Kinderzimmerausstattung zu machen. Einige schritten ein: „Lass bitte liegen! Wie sollen wir den mitkriegen?“ Manche hatten Geduld und ließen ihre Kleinen den Ast ein paar Meter mitschleifen. Die Diskussion ging dann an einer anderen Stelle des Bordsteins los. Der Ast war ein Stück gewandert, aber blieb da.

Manche Eltern suchten nach einer Lösung, entschieden sich aber zum Weitergehen. Alle Kinder griffen nach dem Ast. Von den Erwachsener wollte ihn keiner. Sie hätten das Baumstück schräg auf den Kinderwagen legen können. Dann war es weg. Die vorübergehenden Kinder träumten einen Spieltraum weniger.

Man könnte jetzt sagen: Der Ast war ein herabgestürztes Stück Natur, fehl am Platz auf einer Straße. Man könnte auch sagen: Er war ein Kristallisationskern schöpferischer Lebendigkeit. Der herabgestürzte Ast im Herbst: Was ist deutlicher ein Symbol für den Kreislauf des Lebens? Kinder haben einen intuitiven Sinn für diese Lebendigkeit. Sie suchen nach ihr, um so ihre eigene zu erfahren.Was wäre, wenn wir unseren Kindern die Erfahrung von Lebendigkeit – der Natur und ihrer eigenen – radikal erlaubten?

Was geschähe, wenn wir gestatteten, die Stadt als Spielraum zu nutzen? Ihnen ihre bewachsenen Ecken in ihrer Verwandlung von Frühlingsblühen, Sommerpracht, Herbstleuchten und Winterstarre als Raum der eigenen Lebensentfaltung überließen? Die Szene vor meiner Wohnung zeigte mir: Kindern juckt es in den Fingern, wenn sie ein Stück Natur – und sei es noch so klein – herrenlos vor sich liegen sehen. „Mach etwas mit mir!“, ruft es ihnen zu. „Erkunde mich!“, „Verwandle mich!“ oder „Lass mich zu Deiner Schöpfung werden!“.

All das folgt ihrem Bedürfnis, sich in den Zyklus des Werdens einzuschreiben, der Natur kennzeichnet. Am deutlichsten ist das im Lauf der Jahreszeiten, die uns verändern und auch die Zyklen des menschlichen Lebens spiegeln. Das Kind will verändern – denn auch die Natur verändert, sich und uns, vom (Lebens-)Sommer zum Herbst, vom Winterschlaf zur Blüte.

Die Zyklen der Natur spiegeln die unseres Lebens.

Das Problem ist nur, dass die Erwachsenen lauter Regeln aufgestellt haben, um die Verwandlungen, die Kinder in der Welt des Lebens vornehmen wollen, zu verhindern. Ich verstehe die Regeln gut. Ich bin schließlich selbst Erwachsener. Der Laden muss laufen. Aber die Regeln sind ernst – und damit das Gegenteil von Fantasie. Fantasie bedeutet aber nicht Zwang, sondern Potenzialentfaltung. Die Verwandlung der Natur durch die Jahreszeiten regt auch unsere Fantasie an: wie sich die Buche von Grün zu Kupfer färbt, wie alles unterm Schneetraum des Winters versinkt.

Jedes Ökosystem ist Imagination. Ökologie heißt Potenzialentfaltung. Ihre Regeln beruhen nicht darauf, dass jemand festgelegt hat, was erlaubt ist und was nicht, sondern stellen sicher, dass Potenzialentfaltung bis in alle Ewigkeit möglich bleibt. Ökologische Regeln sind offen. Sie laden ein zur Verwandlung. Die Regel Nummer eins der Ökologie lautet: „Erkunde mich! Verwandle mich!“

Kreative Verwandlung, die aktive, sinnliche Aneignung von Wirklichkeit und ihre Umkonstruktion, bezeichnen wir als Spielen. Kinder sind geboren, um zu spielen. Spielen ist ihr Sinnesorgan für die Wirklichkeit. Das größte Bedürfnis haben Kinder nach Spiel in der Natur. Das hat damit zu tun, dass diese das größte aller Spiele ist.

Die Biene erkundet die Lindenblüte und verwandelt sie: in einen Samen, der zu einem neuen Lindenbaum wird. Auch jedes Kind ist so entstanden, durch die ökologische Regel Nummer eins: „Erkunde mich! Verwandle mich!“ Man könnte sagen, dass sie die Grundregel der Liebe ist. Dann ist auch Spielen eine Form von Lieben. Und selbst die Jahreszeiten, in ihren Farben, ihrem Wandel. Kinder, die bei jedem Wetter spielen dürfen mit dem, was das Spiel der Ökologie hervorgebracht hat, erkunden ihre Liebesfähigkeit.

Spielen ist kein Üben, sondern Schöpfungstat. Weil Natur selbst eine dauernde Schöpfungstat ist, finden sich beide zusammen. Das wissen Kinder. Ihre ökologische Nische ist das Spiel. Wenn ihnen im Herbst ein Ast vom Baum vor die Füße fällt, setzt ihr ökologischer Instinkt ein. Dass sie damit spielen, ist genauso natürlich und unvermeidbar, wie dass die Amsel beginnt, ihr Lied zu flöten, auf Brautschau vom Dachfirst, wenn die Tage länger werden.

Natur ist kreative Verwandlung als Spiel. Darum ist auch die Stadt kein Hinderungsgrund. Sondern unsere Einstellung. Wir glauben, Natur sei das, was „natürlich“ ist. Artenreich. Bio. Aber Natur ist, was lebt. Und leben heißt: Kontakt, Verwandlung, Gegenseitigkeit.

Es ist nicht ein Nationalpark – oder eine preisgekrönte Kita-Außenfläche als Naturerfahrungsraum – erforderlich, damit Kinder ihren schöpferischen Instinkt entfalten können. Sondern die Freiheit, diesen Instinkt zuzulassen.

Wie wäre das: Übernachten unterm Sternenhimmel?

Natur ist kein Sortiment wertvoller, zerbrechlicher Dinge, sondern ein brodelndes Potenzial schöpferischer Freiheit. Genau wie ein Kind. Natur ist nicht schwierig und zerbrechlich. Natur ist: wild, kreativ, verwandlungsfähig. Wie Kinder. Nur muss man ihnen diese Kreativität erlauben.

Die gute Nachricht ist: Liebe geht überall. Die schlechte: Die Erwachsenen müssen sich einen Ruck geben. Eltern, Betreuer, Lehrer, Behörden, Grünflächenamt. Der Kraftakt ist der Perspektivwechsel, weg vom Kind als Lernwesen, hin zum Kind als Kraft der Natur.

Vielleicht fällt das Umdenken leichter, wenn wir das kindliche Bedürfnis nach Spielen nicht länger als angeborenen Trieb zum Lernen betrachten, sondern als Instinkt zu lieben. Beim Lieben kann man Zeit verschwenden. Nichts muss nützlich sein. Nichts sauber, geordnet, geplant. Kein Ergebnis wird erwartet.

Sie sehen, warum dieser Perspektivwechsel für Erwachsene ein Kraftakt ist. Aber er ist die Haltung der Natur, deren Wesen nichts planen, sondern stets aus der Wahrheit ihrer Bedürfnisse handeln.

Wie wäre es einmal damit: Ihrem Krabbelkind, wenn das Kind auf dem Bordstein etwas findet – ein Stück Holz, eine Dose, ein leeres Schneckenhaus –, alle Zeit der Welt zu schenken. Sie wollten auf den TÜV-geprüften, hygienisch sauberen Spielplatz? Ein anderes Mal. Ihr Kind ist hier und jetzt. Und wenn das Kind zwei Stunden mit dem Hölzchen in den staubigen Ritzen der Gehwegplatten stochert.

Wie wäre das: Übernachten unter dem sommerlichen Sternenhimmel im Stadtpark beim Planetarium? Das frische Eis der Pfützen im Dezember ganz früh am Morgen mit den Füßen klirrend splittern lassen? Ein Fort in der kleinen Grünfläche nebenan, und wenn man sich still auf den Boden legt, hört man das Gras wachsen, weil es knisternd die Blätter des letzten Herbstes anhebt?

Jeder Park ist Naturerlebnisraum. In jedem Park zeigt sich das ganze Jahr in seiner Verwandlungsfähigkeit. Hier gibt es Äste, Stöcke, Pflanzen, Erde. Eine Hütte kann man auch im Park bauen. Ein Nest im Gebüsch. Ein Raumschiff auf dem Baum.

Natürliche Biotopentwicklung nennen das Ökologen. Unsere Kinder sind Ökosystemingenieure. Sie bauen sich die Welt. Man darf es ihnen nur nicht verwehren. So können sie, ganz im Spiel, diese Welt lieben. Was sie lieben, das werden sie nicht zerstören. Wenn sie lieben gelernt haben, werden sie stets in der Lage zu sein, sich mit dem Leben zu verwandeln, in den Zyklen seiner Jahreszeiten.

Unser Autor ist Biologe, Philosoph und Schriftsteller. Er kam mit seinen Kindern auf dem Weg nach draußen oft nicht weiter als bis zur Haustreppe – dort hatten sie sich sofort festgespielt. Für ihn war die derart verlangsamte Zeit immer ein Geschenk – und eine Anleitung zur Achtsamkeitsmeditation.